Endokrine Orbitopathie
Die endokrine Orbitopathie (EO) – im anglikanischen Sprachraum als «Graves' orbitopathy», oder «Thyroid eye disease» bezeichnet – ist eine entzündliche Erkrankung der Augenhöhle, die im Rahmen einer autoimmmunbedingten Schilddrüsenfunktionsstörung (meist Typ Morbus Basedow) entsteht. Die EO tritt in ca. 90 % der Fälle in zeitlich engem Zusammenhang mit der Schilddrüsenfunktionsstörung auf, eine Latenz von mehr als 18 Monaten nach Auftreten der Schilddrüsenerkrankung wird nur in ca. 10 % der Fälle beobachtet.
Die EO verläuft phasenabhängig, wobei in jeder Phase ein Aktivitäts- und Schweregrad definiert werden kann. Die aktive Phase wird geprägt durch das Vorhandensein entzündlicher Veränderungen der Weichteilgewebe der Lider und Augenhöhle. Das klinische Bild weist in variablem Ausmass die Entzündungs-Kardinalsymptome Schmerz, Rötung, Schwellung, Überwärmung und Funktionsstörung auf: Schmerzhafter Druck hinter/auf dem Auge bzw. Bewegungsschmerz, Lid-/Bindehautrötung, Lid-/Bindehautödeme, Hervortreten der Augen (= Exophthalmus) und Bewegungsstörungen mit Wahrnehmung von Doppelbildern. In der inaktiven «ausgebrannten» Phase können bleibende Veränderungen resultieren. Diese sind bedingt durch die narbige bzw. fettige Umwandlung der Weichteilgewebe und äussern sich klinisch meist in einem Fortbestehen des Exophthalmus, der Augenbewegungsstörungen mit Doppelbildwahrnehmung und/oder des «starren Blickes» (Lidretraktion). Die schwerwiegendsten Komplikationen stellen sowohl in der aktiven als auch in der inaktiven Phase das Hornhautgeschwür und die Schädigung des Sehnervs dar.
Wann sollte ein(e) Patient(in) an ein spezialisiertes, interdisziplinäres Zentrum zugewiesen werden?
Patienten mit einer autoimmunen Schilddrüsenerkrankung, welche weder Zeichen, noch Symptome einer EO aufweisen, benötigen keine zwingende augenärztliche Vorstellung und müssen nicht einem interdisziplinären Zentrum zugewiesen werden. Dahingegen sollten alle Patienten mit einer EO – mit Ausnahme sehr milder Verlaufsformen – zur Mitbeurteilung und strategischen Festlegung des Therapiekonzepts einem interdisziplinären Zentrum vorgestellt werden. Dies gilt auch für Patienten mit atypischen Verlaufsformen (einseitige EO oder euthyreote EO), unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung.
Um den Patienten korrekt einzustufen, sollten folgende Kriterien berücksichtigt werden:
1. Dringliche Zuweisung bei Vorliegen einer/eines der folgenden
- Beschwerden: Unerklärliche Sehverschlechterung, subjektive Veränderung der Farbwahrnehmung, «Herausrutschen» eines Auges (Subluxatio bulbi).
- Zeichen: Trübung der Hornhaut, inkompletter Lidschluss (Lagophthalmus), Schwellung des Sehnervenkopfes.
2. Nicht dringliche Zuweisung bei Vorliegen einer/eines der folgenden
- Beschwerden: Abnorme Lichtempfindlichkeit mit Zunahme innert 1 bis 2 Monaten, abnormes Kratzen, Brennen und Fremdkörper-/Sandkorngefühl ohne Besserung unter befeuchtender Therapie innert 1 Woche, Druckschmerz auf/hinter dem Auge mit Zunahme innert 1 bis 2 Monaten, äusserliche Veränderung der Augen/Lider innert 1 bis 2 Monaten, Auftreten von Doppelbildern oder einer Kopfzwangshaltung.
- Zeichen: Beeinträchtigende Lidretraktion, abnorme Schwellung oder Rötung der Lider oder Konjunktiven, Einschränkung der Augenmotilität oder manifestes Schielen mit ggf. Einnehmen einer kompensatorischen Kopfzwangshaltung zur Vermeidung des Doppelbildes.
1. Allgemeine Behandlungsrichtlinien für Spezialisten und Nicht-Spezialisten
Rauchen und EO
Jeder Patient mit einer autoimmunen Dysthyreose muss über die Risikokonstellation Rauchen und EO informiert werden. Es konnte gezeigt werden, dass Raucher gegenüber Nichtrauchern ein höheres Risiko aufweisen hinsichtlich der Entwicklung einer EO, der Verschlechterung einer vorbestehenden EO, der Entwicklung schwerer Verlaufsformen, des schlechteren und verzögerten Ansprechens auf die therapeutischen Massnahmen und der Progression der EO nach Radiojodtherapie.
Demgegenüber hat sich in Studien gezeigt, dass ein vollständiger Nikotinverzicht im Verlauf mit einer besseren Prognose der EO verbunden war.
Hyperthyreose und EO
Die Wahrscheinlichkeit schwerer Verlaufsformen der EO ist bei Patienten mit unkontrollierter Schilddrüsenfunktion höher als bei Patienten mit stabil normaler Schilddrüsenfunktion (Euthyreose). Desweiteren stehen ein grosses Schilddrüsenvolumen und hohe TSH-Rezeptor-Antikörper (TRAK) in Zusammenhang mit einem ungünstigen Krankheitsverlauf.
2. Spezielle Behandlungsrichtlinien für spezialisierte Zentren
Milde EO
Aufgrund der selbstlimitierenden Natur der Erkrankung ist bei milden Befundausprägungen eine abwartende Haltung gerechtfertigt. Eine lokale Therapie mit befeuchtenden Augentropfen für den Tag und/oder Augensalbe zur Nacht sollte bei allen Patienten mit Beschwerden eines trockenen Auges verabreicht werden. Auch wenn von einer spezifischen immunsuppressiven (das Immunsystem unterdrückenden) Therapie mit Glukokortikoiden (Kortisonpräparate) oder einer niedrigdosierten Bestrahlung der Augenhöhle (Orbitabestrahlung) ein potentieller Nutzen ausgeht, so rechtfertigen die möglichen Nebenwirkungen in der Regel den Einsatz bei einer milden Verlaufsform der EO nicht. Ein therapeutischer Ansatz ergibt sich aktuell in einer immunmodulierenden, antioxidativen Therapie mit dem essentiellen Spurenelement Selen. Die Ergebnisse einer multizentrischen, doppelblinden und randomisierten EUGOGO-Studie zeigten einen signifikant positiven Effekt von Selenium auf den Krankheitsverlauf.
Moderate bis schwere EO
Bei einer moderaten bis schweren EO sind, mit Ausnahme von beschwerdefreien Patienten, spezifische therapeutische Massnahmen erforderlich. Bei aktiver Orbitopathie ist die Therapie der ersten Wahl eine medikamentöse, immunsuppressive Therapie mit intravenös verabreichtem Kortison über mehrere Wochen mit ggf ergänzender Orbitabestrahlung. Mittlerweile stehen bei unzureichendem Effekt oder Unverträglichkeit des Kortisons alternative immunsupprimierende Medikamente als Zweitlinientherapie zur Verfügung, für deren Einsatz eine Kostengutsprache durch die Krankenkasse eingeholt werden muss.
Bei inaktiver EO steht die rekonstruktiv-rehabilitative Chirurgie im Vordergrund (siehe unten).
Schwere, visusbedrohende Endokrine Orbitopathie
Schwere, die Sehkraft bedrohende Verläufe zeigen sich entweder in einer druckbedingten Schädigung des Sehnervs (Dysthyreote Optikusneuropathie = DON) oder einer Geschwürbildung der Hornhaut (Ulcus bei Expositionskeratopathie) infolge eines unvollständigen Lidschlusses. Die DON erfordert eine rasche Entlastung des Sehnerven, entweder durch eine hochdosierte Gabe systemischer Steroide, eine chirurgische Orbitadekompression oder eine Kombination beider Verfahren. Bei schweren Verlaufsformen mit Geschwürbildung der Hornhaut (Ulcus corneae) besteht die Gefahr der Hornhautperforation, sodass diese Fälle eine absolute Notfallsituation darstellen und einer sofortigen medikamentösen und ggf operativen Therapie bedürfen.
Chirurgische Therapie bei inaktiver Endokriner Orbitopathie
Die rehabilitative Chirurgie umfasst die Reduktion des hervorgetretenen Auges (Exophthalmus) mittels knöcherner Orbitaerweiterung, gegebenenfalls in Kombination mit einer Entfernung orbitalen Fettgewebes bei entstellendem Exophthalmus. Desweiteren können die Stellungskorrektur der äusseren Augenmuskeln bei Schielen mit Doppelbildern sowie lidchirurgische Massnahmen zur Lidkorrektur erforderlich werden. Voraussetzung für jeglichen operativen Eingriff ist das Vorliegen einer inaktiven EO mit Befundstabilität für mindestens 6 Monate und eine stabil normale Schilddrüsenstoffwechsellage.
Wie bereits erwähnt, machen in seltenen Fällen visusbedrohende Komplikationen die rasche operative Intervention zu einem früheren Zeitpunkt erforderlich.